Die Galerie Wilma Tolksdorf freut sich, die Ausstellung Corpi von Johanna Diehl zu präsentieren. Die Fotografien wurden erstmals 2021 im Felix-Nussbaum-Haus im Museumsquartier Osnabrück in der Einzelschau Johanna Diehl. Taubes Geäst gezeigt. Für diese Ausstellung drang Diehl tief in das Leben und Werk des jüdischen Malers Felix Nussbaum (1904-1944) ein. Diehl reflektiert in ihren Arbeiten die von Verfolgung, Flucht, Exil und Isolation geprägte Biografie des Künstlers der Neuen Sachlichkeit und untersucht, in welcher Gestalt sein kraftvolles, vom Widerstand geprägtes Werk ins Heute weist und etwas über die Zerrissenheit der Gegenwart sagen kann.

Dabei interessiert sich die Künstlerin besonders für die Dinge am Rand der Malereien. Gestutzte Bäume, Musikinstrumente, Gesten und Farben: Dinge, die nicht direkt ins Auge fallen, die sich außerhalb des Bildzentrums, gewissermaßen in den „Falten“ des Bildes befinden. Diehls künstlerisches Vorgehen ist charakterisiert durch eine große Sensibilität, den Blick auf das zu richten, was nicht im Fokus steht.

Die schwarzen Fahnen in Nussbaums Orgelmann, 1943, die in Pestzeiten die Häuser der Erkrankten markierten und in seinem Gemälde als Metaphern des Ausschlusses und der Isolation sowie des Todes und Verderbens dienen, bildeten beispielsweise die Formvorlage für die fotografischen Wandobjekte Fahne I-III. Die Künstlerin extrahierte und vergrößerte die Umrisse aus dem Gemälde und füllte die Formen in einem fototechnischen Prozess im analogen Farblabor mit reiner Farbe, die den Hauttönen der Figuren Nussbaums entnommen sind. Diehls fotografische, körperhafte Interpretationen der Fahnen wirken wie ein kraftvoller Kommentar zu den von Zerfall und Verderben zeugenden Fahnen in Nussbaums berühmter Malerei.

Die Abdrücke und fragmentierten Partien von Violinen und Celli in den Arbeiten Gipskörper I-III, Schnecke I- II und Schwarm (Sammlung von Kinnhaltern) verweisen auf einmal anwesende Musikinstrumente. Ihre klanggebenden Körper sind nicht mehr gegenwärtig, doch die Spuren ihrer Präsenz haben sich im Gips verewigt. Geste I bildet wiederum die Hand eines Lautenisten ab, der eine Note greift. Das Instrument ist weder sicht- noch hörbar, der Ton dennoch vorstellbar. Die Künstlerin bedient sich der Motivik nicht bespielbarer Instrumente in Nussbaums Werken, die als Symbole für seine stumme, unbeachtete Arbeit im Exil gelesen werden können.

In den Werkreihen Chemin Walter Benjamin I-IX und Saint Cyprien I-XVI thematisiert Diehl, wie sich Geschichte in die Natur einschreibt und in der Gegenwart imaginier- und fühlbar bleibt. Erstere trägt den Namen eines Wanderweges, der in den Pyrenäen der Route des erfolglosen Fluchtversuchs Walter Benjamins nachgeht. Das plattgetretene Gestrüpp, die teils abgestorbenen Äste und Bäume sowie die Steine auf dem Weg verweisen auf die Aussichtslosigkeit des Schicksals des Philosophen, der sich in Portbou nach Verwehrung der Weiterreise das Leben nahm. Im unweit entfernten St. Cyprien wurde Nussbaum gefangen gehalten, bevor er ins Exil fliehen konnte. Die Palmen und Strandvegetationen, die in lebensfeindlicher Umgebung wachsen und sich den schwierigen Bedingungen anpassen, deuten auf den Überlebenswillen und den Widerstand des Künstlers, der trotz seines resonanzlosen Schaffens im Exil nie aufhörte zu malen. Pigmente I und Garten (Nussbaum Baumgruppe) verkörpern als Gegenbilder zu den ausgeblichenen Gewächsen, toten Ästen und schwarzweißen Pflanzen eine Perspektive der Vitalität und Hoffnung, die sich angesichts der Erinnerung an Nussbaums Leben und Werk im Heute eröffnet.

Johanna Diehl (*1977 Hamburg) lebt und arbeitet in Berlin. Sie studierte Fotografie und bildende Kunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig bei Prof. Timm Rautert und als Meisterschülerin bei Prof. Tina Bara sowie an der École Nationale Supérieure des Beaux Arts in Paris bei Christian Boltanski und Jean-Marc Bustamante. Ihre Arbeiten wurden in zahlreichen nationalen und internationalen Ausstellungen gezeigt und sind u.a. Teil der Sammlung zeitgenössischer Kunst der Bundesrepublik Deutschland, der DZ Bank Kunstsammlung, und der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, Sammlung Moderne Kunst der Pinakothek der Moderne, München. Die mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Künstlerin ist seit 2019 Professorin für Fotografie an der Fakultät Gestaltung in Würzburg.

Literatur: Johanna Diehl. Taubes Geäst (Ausst.kat. Felix-Nussbaum-Haus im Museumsquartier Osnabrück), hrsg. v. Museumsquartier der Stadt Osnabrück, Osnabrück 2021.

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